„Lebensläufe in Postsäcken" – Interview mit Rick Fulghum

Rick Fulghum gehört zur Spitzengruppe der Headhunter Deutschlands. Rund 5000 Manager haben in den vergangenen 20 Jahren bei ihm vorgesprochen, fast 400 davon hat er zusammen mit seinem Partner platziert. Für eine Vermittlung nimmt der 46-Jährige mindestens 150 000 Euro.

Herr Fulghum, wie schnell können Sie einen Kandidaten und seine Fähigkeiten einschätzen?
Nach zehn Sekunden. Da sagt mir mein Bauchgefühl jedenfalls den ersten Eindruck. Außerdem weiß ich schon durch Online-Plattformen, diskrete Nachfragen bei ehemaligen Kollegen und Vorgesetzten viel über einen Kan­didaten, bevor ich ihn treffe. Und wenn ich ihm nach zehn Sekunden im Kopf die Schulnote "Zwei" gebe, dann weicht der Eindruck nach dem einstündigen Gespräch fast nie mehr als um eine Note ab.

Sie bezeichnen den Beruf auf Ihrer Homepage als Eheberatung. Was meinen Sie damit?
Die meisten Manager verbringen mehr Zeit in der Firma als mit ihren Ehepartnern. Daher ist es unsere Aufgabe, Menschen zusammenzubringen, bei denen die Chemie stimmt. Und dazu steht leider nichts im Lebenslauf. Da ist wieder der Bauch und auch Fingerspitzengefühl gefragt, um bei der Eheanbahnung alle möglichen Hürden aus dem Weg zu räumen.

Sie sind schon seit 20 Jahren im Geschäft. Wie war ihr Einstieg?
Ich habe als Informatik-Student im Büro meines jetzigen Partners Dieter Rickert ein Praktikum gemacht und dann eine Datenbank für die Kandidaten programmiert. Vorher sammelte er alles in Aktenschränken auf Karteikarten. 1990, mit der Wiedervereinigung, bekam die Firma dann den Auftrag, Manager für die Privatisierung der DDR-Wirtschaft zu suchen. Dieter Rickert schaltete Anzeigen in allen großen Tageszeitungen, buchte auch eine halbe Seite in der F.A.Z., mit dem Slogan: "Profis für die DDR". Allein im August 1990 meldeten sich 4000 Menschen. Es kamen Postsäcke voller Briefe mit Be­werbungen zu uns in Büro, die ich dann per Hand sortieren musste.

Die Besten haben wir in die Datenbank eingegeben - heute sind darin 10 000 Kandidaten. An­schließend hat mich Herr Rickert gefragt, ob ich bei ihm anfangen will.

Wie hat sich die Branche insgesamt verändert?
Erst mal kommen heute viele Lebensläufe nicht mehr per Post, sondern per Mail. Außerdem gibt es Tausende Personalberater am Markt. Die Leute machen von heute auf morgen ein Büro auf. Die meisten sind extrem spe­zialisiert. Aber im wirklichen Top-Level-Bereich ist die Anzahl der ernstzunehmenden Berater klein geblieben. Und branchenübergreifend tätige Generalisten wie wir? Da gibt es auch relativ wenige. Was sich noch stark gewandelt hat, ist die Geschwindigkeit, mit der wir eine Stelle besetzen müssen.

Wie viel Zeit haben Sie normalerweise?
Eine Suche dauert in der Regel drei Monate. Manchmal muss es aber auch in wenigen Wochen passieren. Der Zeitdruck führt dabei nicht selten dazu, dass Unternehmen keinen festen Suchauftrag mehr vergeben, sondern gleich mehrere Personalberater auf Kandidatenideen ansprechen. Wir wissen dann nicht, ob gleichzeitig unsere Konkurrenten für dieselbe Stelle suchen. Und das Unternehmen bezahlt dann nur den, der als Erstes den besten Kandidaten vermittelt. Im schlimmsten Fall steht man nach wochenlanger Arbeit ohne Honorar da. Das ist definitiv nicht die optimale Vorgehensweise - und zwar für alle Beteiligten.

Sie suchen auch Kandidaten im Ausland, oder?
Schon. Aber wenn wir eine Position besetzen, dann mit Leuten, die sich in Deutschland auskennen, mit der deutschen Wirtschaft, deutscher Kultur, und die auch Deutsch sprechen. Das können Ausländer sein, die bereits einige Zeit hier gelebt haben. Am häufigsten finden wir sie in Europa und Amerika, neuerdings auch in China, seltener in Südamerika oder Südafrika. Manchmal stoßen wir auch auf Kandidaten, die sich eine Zeitlang aus Deutschland zurückgezogen haben, zum Beispiel in Amerika oder Australien einfach mal in Ruhe Zeit mit ihrer Familie verbringen. Früher wäre es undenkbar gewesen, dass ein Manager einfach ein "sabbatical" macht - sich eine Auszeit nimmt, in Südamerika berg­steigen geht oder auf Weltreise fährt.

Kandidaten legen heute also mehr Wert auf genügend Freizeit?
Das würde ich so generell nicht sagen. Jungen, aufstrebenden Managern bis 35 Jahre ist "Work-Life-Balance" meist völlig egal. Die wollen nur ganz nach oben. Wer heiratet und Kinder kriegt, legt auf einmal viel mehr Wert darauf. Dann denkt man an die Schulferien und will etwas von seinen Kindern haben. Auch wenn die erste Ehe in die Brüche gegangen ist, sieht man das Thema wieder anders. Einer meiner Kunden hat seine zweite Liebe gefunden und heiratet sie jetzt. Der hat ganz klar zu mir gesagt: Und wenn du mir den tollsten Job anbietest - das mache ich nicht.

"Work-Life-Balance" ist heute also auch in Top-Positionen akzeptiert?
Für mich ist das Wort eigentlich ein Widerspruch in sich. Arbeit gehört zum Leben dazu. Auch die Frage, ob Zeit bleibt für Familie, Freizeit, Sport, Kultur, ist bei den Höchstleistern meistens kein Entscheidungskriterium. Der nächste Karriereschritt geht vor. Leute, die sagen: Freizeit steht hinten an, die Familie macht mit. Wer sagt: Ich will viel ins Theater gehen, Sport machen und oft meine Familie sehen, wird kein Topmanager werden.


von Jennifer Lange
© Hochschulanzeiger der FAZ im April 2011